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NS-Opfergruppe um kulturelles Erbe gebracht – Forderung nach Restitution
Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden muss nach einem Urteil des Landgerichts Koblenz das umfangreiche Archiv der in der NS-Zeit schwer verfolgten Familie Kusserow nicht herausgeben – und das, obwohl die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas nach dem Willen der Familie die rechtmäßige Alleinerbin der historischen Dokumente ist. Die NS-Opfergruppe sieht sich um ihr kulturelles Erbe gebracht und legt Berufung ein.

30.12.2021 – Jehovas Zeugen betrachten die Entscheidung des Landgerichts Koblenz als rechtlich angreifbar. Die Entscheidung wird dem Andenken der Familie Kusserow und ihrem erlittenen Leid nicht gerecht. Ebenso wird darin die moralische Verantwortung des Museums gegenüber Jehovas Zeugen als NS-Opfergruppe nicht thematisiert. Die Religionsgemeinschaft als Alleinerbin am Archiv fragt sich, ob es sein kann, dass sich ein staatliches Museum auf einen unrechtmäßigen Kauf berufen darf mit der Folge, dass die Möglichkeit einer ganzen Opfergruppe zur Darstellung der erlittenen Verfolgung erheblich eingeschränkt wird. Über die Frage der Restitution von Kulturgütern – also der Rückgabe unrechtmäßig in Besitz gelangter Kulturgüter an die legitimen Voreigentümer oder deren Rechtsnachfolger – wurde in Deutschland in den vergangenen Monaten heftig diskutiert.

Worum geht es genau bei dem jetzigen Streit vor Gericht? Die Familie Kusserow aus Bad Lippspringe (Nordrhein-Westfalen) ist vielen Historikern ein Begriff – steht diese 13-köpfige Familie doch stellvertretend für viele andere Opfer der NS-Zeit unter Jehovas Zeugen und anderer religiöser Minderheiten. Aus Gewissensgründen lehnte die Familie die menschenverachtende Ideologie der Nationalsozialisten sowie jede Beteiligung am Kriegsdienst ab.

Die Mitglieder der Familie Kusserow wurden in den zwölf Jahren des NS-Regimes zu insgesamt 47 Jahren und 9 Monaten Haft verurteilt. Mit Wilhelm und Wolfgang wurden zwei Söhne als Kriegsdienstverweigerer im Alter von 25 beziehungsweise 20 Jahren hingerichtet. Vater Franz und Sohn Karl-Heinz Kusserow starben nach der Befreiung an den Haftfolgen.

Die älteste Tochter Annemarie Kusserow legte ein Archiv mit vielen historisch wertvollen Dokumenten an, das sie jahrzehntelang bis zu ihrem Tod pflegte. In 31 Ordnern befinden sich unter anderem Zeichnungen, Todesurteile und Abschiedsbriefe. Per Testament bestimmte Annemarie Kusserow Jehovas Zeugen zu Alleinerben des Archivs.

Nach dem Tod von Annemarie Kusserow im April 2005 war das Archiv dann aber aus ihrem Haus verschwunden. Ein inzwischen verstorbener Bruder, der nicht mit Jehovas Zeugen verbunden war, verkaufte das Archiv im Dezember 2009 an das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden – ohne Wissen und Zustimmung der Alleinerbin und der restlichen Familie.

Nachdem jahrelange außergerichtliche Verhandlungen der Religionsgemeinschaft mit dem Museum in Dresden in Bezug auf eine gütliche Einigung gescheitert waren, klagten Jehovas Zeugen im April 2021 auf Herausgabe des historischen Vermächtnisses. Das Landgericht Koblenz wies diese Klage jedoch am 18. November 2021 ab mit der Begründung, das Museum habe das Archiv „gutgläubig erworben“. Damit steht aber auch fest, dass das Archiv unrechtmäßig an das Museum verkauft wurde. Wird das Museum der Verantwortung einer staatlichen Einrichtung gegenüber der NS-Opfergruppe gerecht, wenn es unter Berufung auf diesen unrechtmäßigen Kauf die Herausgabe des Archivs verweigert? Angesichts der Verfolgungsgeschichte von Jehovas Zeugen und insbesondere der Leidensgeschichte der Familie Kusserow erachten Jehovas Zeugen dies für moralisch höchst fragwürdig – zumal das Museum nicht das gesamte Archiv nutzt, sondern nur den Aspekt der Kriegsdienstverweigerung in seiner Ausstellung thematisiert. Die wesentliche Motivation für die Standhaftigkeit der Familie Kusserow bleibt damit unberücksichtigt: die Wahrung ihrer Glaubenstreue. Soll dieser Aspekt unter Verschluss gehalten werden?

Der 90-jährige Paul-Gerhard Kusserow – jüngster und einziger noch lebender Sohn der Familie – hat eine klare Meinung zum Verbleib seines Familienvermächtnisses. „Meine Brüder sind dafür gestorben, dass sie den Wehrdienst verweigert haben. Ich finde es nicht korrekt, dass dieses Erbe in einem Militärmuseum verwahrt wird.“

Jehovas Zeugen lassen das erstinstanzliche Urteil nunmehr durch ein Berufungsgericht auf Rechtmäßigkeit überprüfen.