Ein Jahr nach der Bluttat in einem Königreichssaal (Gotteshaus) von Jehovas Zeugen in Hamburg-Winterhude gedenkt die Glaubensgemeinschaft der Opfer des Gewaltverbrechens. Gleichzeitig machen sie auf den besorgniserregenden Anstieg von Hassrede und Hasskriminalität gegen sie aufmerksam.
Berlin, 08.03.2024 – Am 9. März 2023 drang ein bewaffneter Attentäter kurz nach einem Gottesdienst in den Königreichssaal von Jehovas Zeugen in Hamburg-Winterhude ein. Nachdem er sieben Personen durch Schüsse getötet und mehrere verletzt hatte, verschafften sich Polizeikräfte Zutritt zum Königreichssaal und beendeten den Angriff. Daraufhin nahm sich der Täter das Leben. Zeugen Jehovas vor Ort und auf der ganzen Welt sind nach wie vor schockiert von diesem unfassbaren Hassverbrechen.
Am 25. März fand in der Alsterdorfer Sporthalle eine Gedenkveranstaltung für die Opfer statt. Vor Ort nahmen über 3 300 Personen teil, über 90 000 Geräte waren per Livestream verbunden. Auch Personen des öffentlichen Lebens und Vertreter der Regierung, der Behörden und der Einsatzkräfte Hamburgs waren vor Ort.
Carola Veit, Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft, äußerte sich im Rahmen der Gedenkveranstaltung wie folgt: „Wir können das Ereignis nicht ungeschehen machen, aber wir tragen als Parlament, als gesetzgebende Gewalt, besondere Verantwortung dafür, alles in unserer Macht Stehende zu tun, damit eine solche Tat gar nicht erst möglich ist.“
Die Entwicklung im vergangenen Jahr gibt der Glaubensgemeinschaft jedoch weiterhin Anlass zur Sorge.
Tendenziöse und vorurteilsbelastete Medienberichte
Michael Tsifidaris, Sprecher der Religionsgemeinschaft in Norddeutschland, sagt: „Wir schätzen die objektive Berichterstattung einiger Journalisten, doch die häufig einseitige Recherche und vorurteilsbelasteten Veröffentlichungen insbesondere nach dem Attentat am 9. März 2023 haben dazu beigetragen, dass Gläubige unserer Religion zunehmend Opfer von physischer Gewalt und verbalen Angriffen werden.“ Auch die Verarbeitung der Tat sei den Betroffenen aufgrund der unverantwortlichen Täter-Opfer-Umkehr, die hauptsächlich durch die Medien verbreitet wurde, zusätzlich erschwert worden, so Tsifidaris weiter, der in engem Austausch mit den Opfern des Attentats steht.
Sogar unmittelbar nach der Tat verbreiteten erklärte Gegner von Jehovas Zeugen weiterhin unbehelligt Hassrede, meistens durch soziale Medien oder einseitige Medienberichterstattung. In vielen Städten Deutschlands wurde in der Folge ein drastischer Anstieg von Gewalttaten gegen Zeugen Jehovas, physisch und verbal, sowie Vandalismus an ihren Gotteshäusern vermerkt.
Jehovas Zeugen in Deutschland beobachten mit großer Sorge den massiven Anstieg von Hassrede und Hasskriminalität gegen sie. Stefan Steiner, Menschenrechtsbeauftragter der Religionsgemeinschaft, sagt: „Drohbotschaften an Türen von Gläubigen, verwüstete Literatur-Trolleys sowie schmähende und menschenunwürdige Beleidigungen sind für Jehovas Zeugen bei der friedlichen Ausübung ihres Glaubens keine Ausnahme mehr.“
Aufruf zu mehr Achtsamkeit
In einer Broschüre machen Jehovas Zeugen nun Regierungs- und Behördenvertreter auf diese traurigen Tatsachen aufmerksam. Darin äußern sie sich vor allem „schockiert darüber, dass die Strafverfolgungsbehörden es ablehnen, in Verbindung mit diesen offenkundigen Hassreden einzuschreiten und schon behauptet haben, diese Art diskriminierender Berichterstattung erfolge im Interesse der Öffentlichkeit und sei als Wahrnehmung berechtigter Interessen gerechtfertigt.“
Stefan Steiner berichtet: „Wir sind uns bewusst, dass aktuell Hass und Rassismus nicht nur gegen Jehovas Zeugen auf dem Vormarsch sind, aber in Verbindung mit Jehovas Zeugen werden Hassrede und Kriminalität meistens bagatellisiert oder aufgrund bestehender Vorurteile entschuldigt. Dieser Mangel an Achtsamkeit gegen eine religiöse Minderheit macht uns oft sprachlos.“ Viele Zeugen Jehovas hätten in der deutschen Geschichte sowohl im Dritten Reich als auch während der SED-Diktatur heftige Verfolgung erlebt, die mit ähnlichen Hass-Taten gegen sie begann und von der Justiz ebenfalls ignoriert wurden. Dabei haben gerade sie im zivilen Widerstand gegen Totalitarismus und ihrem Beispiel für Menschlichkeit Herausragendes in diesem Land geleistet, wie der Bundestag vor wenigen Monaten fraktionsübergreifend klargestellt hat.
„Das Grundrecht, seinen Glauben frei auszuüben, ohne Angst vor Gewalt und Hass aufgrund seiner religiösen Überzeugung haben zu müssen, gilt es zu schützen – auch und gerade gegenüber Jehovas Zeugen“, vermerkt Steiner. Normen, die Beleidigung und Verleumdung in den Medien, insbesondere im Zusammenhang mit religiöser Intoleranz verhinderten, müssten konsequent angewandt werden. Auch müssten Hassverbrechen gegen Gläubige oder deren Gotteshäuser gründlich ermittelt und die Täter konsequent strafrechtlich verfolgt werden.
„Wir rufen verantwortliche Medienschaffende und auch Lehrkräfte zu mehr Achtsamkeit bei der Information über Jehovas Zeugen auf“, so Steiner weiter. Die Verantwortung, seriös, tolerant und neutral zu informieren, dürfe nicht der hohen Nachfrage an vermeintlichen Skandalberichten von selbsternannten „Experten“ oder den Interessen von Großkirchen zum Opfer fallen.
„Nur wer miteinander spricht, kann sich verstehen.“
Jehovas Zeugen laden jeden dazu ein, sich unvoreingenommen selbst ein Bild von ihnen und ihren Glaubensansichten zu machen. Michael Tsifidaris sagt abschließend: „Sprechen Sie uns an und stellen Sie uns Ihre Fragen, wenn Sie uns in der Innenstadt sehen oder wir vor Ihrer Haustür stehen. Schauen Sie einfach bei einer unserer zahlreichen Gottesdienste vorbei und lernen Sie die Menschen dort kennen. Nur wer miteinander spricht, kann sich verstehen.“
Mehr über Jehovas Zeugen kann man auf jw.org erfahren.