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Deutsches Verteidigungsministerium ignoriert Bitten von NS-Opfergruppe
Kürzlich aufgefundene Dokumente könnten zur Beilegung des langwierigen Rechtsstreits um das historisch wertvolle Annemarie-Kusserow-Archiv führen

Selters (Taunus), 04.11.2022 — Jehovas Zeugen sind vor kurzem auf Dokumente gestoßen, die ihre auch in der internationalen Presse veröffentlichte Forderung nach der Rückgabe des begehrten Annemarie-Kusserow-Archivs weiter untermauern. Das Archiv, das im Militärhistorischen Museum in Dresden aufbewahrt wird, ist eine unschätzbar wertvolle Sammlung, die für das historische Erbe von Jehovas Zeugen als NS-Opfergruppe von entscheidender Bedeutung ist. Trotz mehrerer Anfragen seitens der Religionsgemeinschaft, lehnt das für das Museum verantwortliche deutsche Verteidigungsministerium es ab, an Gesprächen über das umfangreiche Archiv teilzunehmen, das Zeichnungen, bewegende Abschiedsbriefe und Todesurteile enthält.

Wem gehört das Archiv wirklich?

Nach einem langwierigen Rechtsstreit entschied das Landgericht Koblenz 2021 zugunsten der Behauptung des Militärhistorischen Museums, es habe das Archiv „in gutem Glauben“ von Kusserows jüngerem Bruder erworben. Die Wachtturm-Bibel- und Traktat-Gesellschaft der Zeugen Jehovas konfrontiert das Museum nun mit neu aufgetauchten Dokumenten, die bestätigen, dass das Archiv nicht verkauft, sondern an die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas vermacht werden sollte.

Ein Leben für den Frieden – nicht für den Krieg

Der jüngste und letzte noch lebende Sohn der Familie verstarb im Oktober dieses Jahres. Bis zuletzt hatte Paul Gerhard Kusserow gehofft, dass dem Willen seiner Schwester doch noch entsprochen wird – denn es war auch sein eigener: „Meine Brüder sind gestorben, weil sie sich geweigert haben, am Militärdienst teilzunehmen. Ich finde es nicht richtig, dass dieses Erbe ausgerechnet in einem Militärmuseum aufbewahrt wird.“

„Das ist vor allem ein moralisches Unrecht“, sagt Wolfram Slupina, Sprecher von Jehovas Zeugen in Deutschland. „Das Archiv steht für unsere Geschichte, unsere Überzeugung und für Frieden! Deshalb gehört es ausschließlich in die weltweiten Museen von Jehovas Zeugen.“

Das Militärhistorische Museum versteht sich nach Angaben des Ministeriums nicht als Kriegsmuseum im klassischen Sinne, sondern beteuert, es sei „ein Forum für einen differenzierten und kontroversen Diskurs über die Rolle von Krieg und Militär in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“. Slupina stellt jedoch klar: „Die Familie Kusserow steht nicht für einen differenzierten und kontroversen Dialog zum Thema Krieg. Ihre Familienmitglieder haben immer klar Stellung bezogen, indem sie jede Unterstützung für den Krieg abgelehnt haben, obwohl das unmenschlichen Druck und bei einigen von ihnen sogar ihre Hinrichtung zur Folge hatte. Sie haben ihr Leben für den Frieden gegeben – nicht für den Krieg.“

Der Wert eines historischen Erbes

Zahlreiche Mitglieder der Opfergruppe, Opfer der Verfolgung sowie deren Familienangehörige, haben sich in Briefen an das Verteidigungsministerium und das Museum gewandt und eindringlich um die Herausgabe des Archivs gebeten.

Simone Liebster, eine der wenigen verbliebenen Überlebenden der NS-Verfolgung, erklärte unter anderem: „Verehrte Frau Bundesministerin, ich bitte Sie darum, nach einer Lösung zu suchen, wie die Dokumente der Familie Kusserow wieder dorthin gelangen, wo meine Freundin Annemarie Kusserow sie haben wollte – im Archiv der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Zentraleuropa.“

„Ich weiß, dass das Militärhistorische Museum in Dresden wunderbare Arbeit leistet“, fügte Frau Liebster hinzu. „Der Krieg wird dort nicht verherrlicht, sondern sein Schrecken gezeigt. Und doch steht dieses Museum in Verbindung mit den deutschen Streitkräften. Allein das schon fügt den Überlebenden der NS-Verfolgung und ihren Nachkommen großen seelischen Schmerz zu.“ Dutzende von Bürgern aus Deutschland, aber auch aus Israel und den USA, haben auf die internationale Berichterstattung reagiert, die dieser Fall hervorgerufen hat, und sich ebenfalls schriftlich an das Ministerium gewandt, um ihre Enttäuschung darüber zum Ausdruck zu bringen, dass einer NS-Opfergruppe ein einzigartiges und unersetzliches Archiv, ein Bestandteil ihres historischen Erbes, vorenthalten wird.