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NS-Opfergruppe um kulturelles Erbe gebracht – Die New York Times berichtet über Forderung von Jehovas Zeugen

03.02.2022 – Die New York Times berichtet ausführlich über einen Rechtsstreit zwischen Jehovas Zeugen als NS-Opfergruppe und dem Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden. Die Zeitung thematisiert dabei auch die Ziele der neuen Bundesregierung. Diese will die Erinnerungskultur und die weitere Aufarbeitung der NS-Diktatur zum zentralen Bestandteil ihrer Kulturpolitik machen.

Dem Bericht in der New York Times vorausgegangen war ein Urteil des Landgerichts Koblenz. Demnach muss das Militärhistorische Museum das umfangreiche Archiv mit Dokumenten über die in der NS-Diktatur schwer verfolgte Familie Kusserow nicht herausgeben – und das, obwohl die Religionsgemeinschaft von Jehovas Zeugen die Alleinerbin der historischen Dokumente ist. Die NS-Opfergruppe sieht sich um ihr kulturelles Erbe gebracht. Sie legte Berufung ein.

Unter der Überschrift „Jehovah’s Witnesses Sue German Museum for Archive of Nazi-Era Abuses“ schreibt die New York Times am 25. Januar 2022, dass in dem Museum in Dresden nur sechs einzelne Dokumente aus dem 31 Aktenordner umfassenden Kusserow-Archiv öffentlich zu sehen sind. Ausgestellt ist nach Museums-Angaben unter anderem ein Abschiedsbrief von Wilhelm Kusserow. Im Alter von 25 Jahren war er als Kriegsdienstverweigerer hingerichtet worden. Sein Bruder Wolfgang wurde aus demselben Grund ebenfalls hingerichtet.

Die New York Times beschäftigte sich in dem Artikel auch mit der bisweilen in Deutschland fehlenden Anerkennung von Jehovas Zeugen als NS-Opfergruppe und ihrem historischen Erbe. „Während es in Berlin Denkmäler für die ermordeten Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und Euthanasieopfer gibt, ist den von den Nationalsozialisten ermordeten Zeugen Jehovas noch kein Denkmal gewidmet“, schreibt die US-amerikanische Tageszeitung.

Das Blatt zitiert Wolfram Slupina als Sprecher von Jehovas Zeugen in Deutschland: Die Zurückhaltung des Archivs durch das Museum „beraubt uns eines bedeutenden und unschätzbaren Teils unseres kulturellen Erbes“. Das Leiden der Zeugen Jehovas in der NS-Diktatur werde auch 77 Jahre nach dem Holocaust in Berichten und in den Gedenkstätten häufig nicht explizit erwähnt, sondern nur vage mit dem Hinweis auf „andere Opfergruppen“.

Die New York Times nimmt in diesem Zusammenhang Bezug auf eine Rede des Grünen-Bundestagsabgeordneten Erhard Grundl, die er am 13. Januar 2022 in Vertretung für Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) vor dem deutschen Parlament hielt. Vieles sei auch nach fast acht Jahrzehnten noch nicht aufgearbeitet, sagte Grundl. „Es braucht ein Mahnmal für die verfolgten und ermordeten Zeugen Jehovas“, formulierte er ein kulturpolitisches Ziel der neuen Bundesregierung.

Für Jehovas Zeugen wird die Entscheidung des Landgerichts Koblenz dem Andenken der Familie Kusserow und ihrem erlittenen Leid nicht gerecht und ist in Bezug auf die Verantwortung einer staatlichen Institution gegenüber einer NS-Opfergruppe moralisch fragwürdig. Das Museum nutze nicht das gesamte Archiv, sondern thematisiere in seiner Ausstellung nur den Aspekt der Kriegsdienstverweigerung. Das habe zur Folge, dass die Möglichkeit einer ganzen Opfergruppe zur Darstellung der erlittenen Verfolgung erheblich eingeschränkt wird. Die wesentliche Motivation für den gewaltlosen Widerstand der 13-köpfigen Familie im Nationalsozialismus bleibe damit unberücksichtigt: die Wahrung ihrer Glaubenstreue. Dieser Aspekt könne nicht unter Verschluss gehalten werden. Jehovas Zeugen hingegen würden die wertvollen Archivalien in ihren Museen weltweit ausstellen. So wären sie jährlich über hunderttausend Besuchern zugänglich.

Der 90-jährige Paul-Gerhard Kusserow – jüngster und einziger noch lebender Sohn der Familie – hat eine klare Meinung zum Verbleib seines Familienvermächtnisses. „Meine Brüder sind dafür gestorben, dass sie den Wehrdienst verweigert haben. Ich finde es nicht korrekt, dass dieses Erbe in einem Militärmuseum verwahrt wird.“

Hintergrund:

Worum geht es genau bei der rechtlichen Auseinandersetzung? Die Familie Kusserow aus Bad Lippspringe (Nordrhein-Westfalen) lehnte aus Gewissensgründen die menschenverachtende Ideologie der Nationalsozialisten sowie jede Beteiligung am Kriegsdienst ab. Die Mitglieder der Familie wurden in den zwölf Jahren des NS-Regimes zu insgesamt 47 Jahren und 9 Monaten Haft verurteilt. Neben den als Kriegsdienstverweigerer hingerichteten Söhnen Wilhelm und Wolfgang gab es zwei weitere Todesopfer: Vater Franz und Sohn Karl-Heinz Kusserow starben an den Haftfolgen.

Die älteste Tochter Annemarie Kusserow sammelte viele historisch wertvolle Dokumente in einem Archiv, das sie bis zu ihrem Tod pflegte. In 31 Ordnern befinden sich unter anderem Zeichnungen, Todesurteile und Abschiedsbriefe. Per Testament bestimmte Annemarie Kusserow die Religionsgemeinschaft von Jehovas Zeugen zur Alleinerbin des Archivs. Nach ihrem Tod verkaufte jedoch ein inzwischen verstorbener Bruder, der nicht mit Jehovas Zeugen verbunden war, das Archiv an das Militärhistorische Museum – ohne Wissen und Zustimmung der Alleinerbin und der restlichen Familie.

Nachdem außergerichtliche Verhandlungen der Religionsgemeinschaft mit dem Museum in Dresden in Bezug auf eine gütliche Einigung gescheitert waren, klagten Jehovas Zeugen im April 2021 auf Herausgabe des historischen Vermächtnisses. Das Landgericht Koblenz wies diese Klage jedoch am 18. November 2021 ab mit der Begründung, das Museum habe das Archiv „gutgläubig erworben“. Jehovas Zeugen lassen das erstinstanzliche Urteil nun durch ein Berufungsgericht auf Rechtmäßigkeit überprüfen.

Zum Artikel der New York Times:
https://www.nytimes.com/2022/01/25/arts/design/jehovahs-witnesses-nazis-lawsuit-museum.html

Mehr zum Hintergrund:
Jehovas Zeugen bemühen sich um historische Kusserow-Dokumente